von Miriam Bräu und Lea Leutiger
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1. Einleitung
„How [the stories] are told, who tells them, when they are told, how many stories are told, are really dependent on power. […] Start the story with the arrows of the Native Americans and not with the arrival of the British and you have an entirely different story. Start the story with the failure of the African state and not with the colonial creation of the African state and you have an entirely different story.“ (Adichie 2009)
„[We need to] understand how concepts of knowledge, scholarship and science are intrinsically linked to power and racial authorities. What knowledge is being acknowledged as such? And what knowledge is not? What knowledge has been made part of academic agendas? And what knowledge has not? Whose knowledge is this? […] the academic centre, is not a neutral location. It is a white space where Black people have been denied the privilege to speak. Historically, it is a space where we have been voiceless and where white scholars have developed theoretical discourses that formally constructed us as the inferior ’Other’, placing Africans in absolute subordination to the white subject. Here we have been described, classified, dehumanized, primitivized, brutalized, killed. This is not a neutral space.“ (Kilomba 2010: 25-26)
In einer Seminarsitzung zum Thema ‚Postkolonialismus’ hatten Kommiliton*innen eine Aufgabe vorbereitet: auf einer Weltkarte sollten die Orte markiert werden, an denen Deutschland zu irgendeinem Zeitpunkt Kolonien hatte. Kurz darauf ging ein peinlich berührtes Schweigen durch die Runde und gemeinsam konnten gerade einmal Namibia und Tansania genannt werden. Doch warum wissen wir, obwohl wir in Deutschland aufgewachsen und zur Schule gegangen sind, so wenig über deutschen Kolonialismus? Aus eigener Erfahrung können wir sagen, dass in unserem Geschichtsunterricht in Bayern und Hessen kaum auf die deutsche Kolonialgeschichte eingegangen wurde, und bis heute können wir immer wieder große Wissenslücken in Bezug auf dieses Thema feststellen – bei uns selber und wie uns scheint bei großen Teilen der deutschen Gesellschaft. Zu der Frage warum deutscher Kolonialismus so selten thematisiert wird, lässt sich mit Noah Sow antworten: „Zeitdokumente und Überlieferungen, die Einzug in historische Archive und Geschichtsbücher halten, stammen meist von den Mächtigen“ (Arndt & Ofuatey-Alazard 2011: 154). Hierauf bezieht sich auch Grada Kilomba in dem obigen Zitat: Macht und Wissen sind immer miteinander verbunden, insbesondere, wenn Entscheidungen darüber getroffen werden, wessen Perspektiven gezeigt werden sollen. Sie stellt die Frage, welches Wissen Teil der akademischen Agenda ist und kritisiert, dass die Wissenschaft häufig eurozentrisch ist und aus der Perspektive von weißen Subjekten (und somit ‚den Mächtigen’) geschrieben wird, die Schwarze Objekte definieren[1].
Die Fragestellung ist ebenso relevant für den schulischen Kontext. Welches Wissen wird Schüler*innen vermittelt und was wird ausgelassen? Wessen Sichtweisen werden aufgezeigt? Die Vergangenheit kann aus verschiedenen Perspektiven erzählt werden, unter Ausschluss und Favorisierung bestimmter Narrative (Grieb 2015: 7). Wir haben den Eindruck, dass Wissen in der Schule oft als objektiv dargestellt wird und nicht dazu angeregt wird, einseitige Narrative zu hinterfragen. Weiterhin herrscht die Vorstellung, dass man in der Schule all die Informationen vermittelt bekommt, die für ein ‚Allgemeinwissen’ nötig sind. Wenn Schüler*innen also das Gelernte für die einzig relevanten Aspekte eines Themas halten, ist es umso wichtiger, sich anzuschauen, wie Kolonialismus und insbesondere deutscher Kolonialismus in der Schule gelehrt wird.
Das Wissen, das in Schulbüchern vermittelt wird, nimmt hierbei einen besonderen Stellenwert ein. Einerseits orientieren sich viele Lehrer*innen an den bereitgestellten Lehrmaterialien, wodurch Schulbücher einen Einblick geben können, welches Wissen im Unterricht vermittelt wird. Darüber hinaus sind insbesondere Geschichtsschulbücher Orte, „an denen das kollektive Gedächtnis eines Landes konstruiert und vermittelt wird“ (Davenas 2014: 3). Da Geschichtsschulbücher an die staatlichen Lehrpläne gebunden sind, spiegeln sie die offiziell anerkannte Version der Vergangenheit und das „legitime und gültige Wissen“ (Hummer 2014: 8) in einer Gesellschaft. Sie können als „Repräsentationen gesellschaftlich gesicherten Wissens“ (Macgilchrist 2011: 248) gesehen werden, die staatlich anerkannt und bestätigt sind und Vergangenheitsnarrative reproduzieren. Geschichtsschulbücher sind somit einerseits Produkt des kollektiven Gedächtnisses einer Region und wirken gleichzeitig auf ebendieses ein.
Fehlendes Wissen über die Kolonisierung und die Verantwortung Deutschlands hierbei hat weitreichende Konsequenzen. Insbesondere die einseitige Darstellung Schwarzer Menschen und des afrikanischen Kontinents tragen zur Reproduktion rassistischer Stereotype bei. Aus Marmer, Sows et al. Studie ist zu entnehmen, dass sich viele interviewte weiße Schüler*innen auf intellektueller und materieller Ebene überlegen gegenüber Afrikaner*innen fühlten und eine subtile Verbindung zwischen Hautfarbe und Armut zogen (Marmer, Marmer, Hitomi, & Sow 2011: 3,7). Rassismus ist bis heute ein großes Problem in Deutschland, das jedoch viel zu selten thematisiert wird[2].
Weiterhin können aktuelle Entwicklungen – sowohl in kolonisierten Ländern als auch in den Ländern der Kolonialmächte – nicht verstanden werden, ohne über den Kolonialismus und seine Kontinuitäten Bescheid zu wissen, worauf auch Chimamanda Ngozi Adichie im einleitenden Zitat hinweist. Gerade aktuelle Themen wie Migration und Rassismus können nicht verstanden werden, ohne ihre historische Einbettung in die Kolonialzeit zu erkennen.
In unserer Arbeit zur deutschen Kolonialgeschichte im Geschichtsbuch werden wir ein aktuelles Geschichtsbuch des Ernst Klett Verlags (2011) untersuchen. Bevor wir zum Hauptteil dieser Arbeit kommen, werden wir auf unsere Vorgehensweise und Methodik eingehen. An dieser Stelle möchten wir sichtbar machen, dass beide Autorinnen weiß positioniert sind. Die Kritik hängt stark davon ab, was aus welcher Perspektive kritisiert wird, da wir als weiße Personen Rassismus nicht erleben, sondern immer aus zweiter Hand erfahren.
2. Vorgehensweise und Methodik
Marion Davenas weist in ihrer Untersuchung auf „einen Mangel an wissenschaftlichen Untersuchungen zu Geschichtsschulbüchern bezüglich des Themas ‚deutscher Kolonialismus’“ hin (Davenas 2014: 4). Mit unserer Arbeit möchten wir daher, wie es auch schon andere Wissenschaftler*innen getan haben, zum Füllen dieser Lücke beitragen. Auch wenn die postkoloniale Analyse von Schulbüchern noch kein sehr großes Forschungsgebiet darstellt, so gibt es doch einige Untersuchungen, die sich mit der Darstellung von Afrika und/oder Kolonialismus in Schulbüchern auseinandersetzen. Die meisten dieser Arbeiten wählen einen vergleichenden Ansatz, um einen Überblick über die Darstellung in verschiedenen Schulbüchern zu schaffen. Bei unserer Recherche zu diesem Thema stießen wir sehr schnell auf den rassismuskritischen Leitfaden von IMAFREDU (Image of Africa in Education), der zu einer Analyse von Lehrmaterialien „nach rassismuskritischen und diversitätsorientierten Kriterien“ anregt (Autor*innenKollektiv 2015: 10). Dieser Aufforderung möchten wir mit unserer Arbeit nachkommen, in dem wir das Geschichtsbuch „Geschichte und Geschehen“ vom Ernst Klett Verlag aus einer dekolonialen und rassismuskritischen Perspektive analysieren. Unsere qualitative Untersuchung erhebt dabei nicht den Anspruch, einen repräsentativen Überblick über die Darstellung in Schulbüchern zu liefern, sondern soll vielmehr eine tiefgehende Analyse einer einzelnen ausgewählten Quelle ermöglichen, in der die genutzten Inhalte, Formulierungen und Bilder in den Kontext anderer Untersuchungen gestellt werden können.
Marion Davenas vergleicht in ihrer Arbeit “Kolonialrassismus im Schulbuch” Geschichtsbücher aus Nordrhein-Westfalen über einen längeren Zeitraum hinweg (Davenas 2014). Jana Maria Grieb analysiert in ihrer Bachelorarbeit “Kolonialismus in Bildern” (Grieb 2015), Anke Poenicke vergleicht aktuelle Geschichtsbücher in ihrer Analyse über “Afrika im neuen Geschichtsbuch” (Poenicke 2008) und Elina Marmer und Papa Sow et. al schreiben in verschiedenen Werken über Rassismus und Afrikadarstellungen im Schulkontext (Marmer et al. 2011; Marmer 2013; Marmer & Sow 2013, 2015). In Anlehnung an diese Untersuchungen, möchten wir uns, wie in der Einleitung beschrieben, auf die Darstellung des deutschen Kolonialismus fokussieren, da aus unserer Erfahrung gerade diese Thematik oft unzureichend im deutschen Schulunterricht behandelt wird.
Das Buch “Geschichte und Geschehen” von Klett ist für die 9. Jahrgangsstufe der Länder Berlin, Bremen, Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachsen vorgesehen. Es ist anzumerken, dass der Themenbereich ‘Imperialismus’, unter den auch der deutsche Kolonialismus fällt, im Rahmenlehrplan des Landes Berlin zwar genannt wird, jedoch nicht verpflichtend ist und Lehrkräfte eigenständig entscheiden können, ob sie das Thema behandeln oder nicht (vgl. Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport). Hier zeigt sich bereits, dass der Thematik in Deutschland keine große Aufmerksamkeit geschenkt wird.
Unsere Analyse behandelt zwei Unterkapitel des Abschnitts „Imperialismus und Erster Weltkrieg“ (Klett 2011: 42-62). Diese Unterkapitel lauten: „Warum erobern die Europäer die Welt? – Mission, Zivilisation und Ausbeutung“ (Ibid.: S. 49-53) und „Kein Sonnenuntergang in unserem Reich“ – Das Deutsche Reich als Kolonialmacht“ (Ibid.: 54-56).
Dabei orientieren wir uns an den Analysekriterien aller oben genannter Schulbuchuntersuchungen. Für eine Analyse von Unterrichtsmaterialien schlägt der rassismuskritische Leitfaden von IMAFREDU vor, u.A. die Bilder sowie die Sprache zu betrachten. Werden rein europäische Bilder und Quellen benutzt? Wenn ja, werden die eventuell enthaltenen rassistischen Inhalte problematisiert? Werden die Personen würdevoll beschrieben und dargestellt? Dies ist häufig bei “kolonialrassistischen Darstellungen von Schwarzen Menschen aus weißer Perspektive” nicht der Fall. Oder, wenn erniedrigende Fremdbezeichnungen aus der Kolonialzeit verwendet werden (Autor*innenKollektiv 2015: 43-44).
Wie wir in der Einleitung bereits gezeigt haben, kann die Vergangenheit aus verschiedenen Sichtweisen erzählt werden, wobei bestimmte Aspekte des (deutschen) Kolonialismus in kleinerem Umfang behandelt oder sogar ausgelassen werden. Marmer und Sow stellen dabei die Fragen: “What is being told?” (Was wird erzählt?) und “What is being omitted?” (Was wird ausgelassen?), an denen wir uns ebenfalls orientieren wollen (Marmer & Sow 2013: 53). Passend dazu beschäftigt sich der Leitfaden damit, wie etwas erzählt wird, was (nicht) erzählt wird und welches Wissen miteinbezogen wird (Autor*innenKollektiv 2015: 25).
Davenas führt in ihrer Analyse einige Fragen auf, die wir (in durchmischter Form) ebenfalls beachten werden. Darunter sind: “In welchem Umfang erscheint das Thema “Kolonialgeschichte”? Welche Motive für die Kolonialpolitik werden genannt? Wird Rassismus als Rechtfertigungsideologie des Imperialismus aufgeführt? Werden die Perspektiven der Kolonisierten deutlich oder wird der Kolonialismus hauptsächlich aus europäischer Perspektive heraus beurteilt? Werden Kontinuitäten kolonialrassistischen Gedankenguts bis in die heutige Zeit nachgezeichnet?” (Davenas 2014: 5-6).
Wir werden unsere Untersuchungen inhaltlich gliedern und die oben beschriebenen Kriterien innerhalb der jeweiligen Themengebiete mit einbeziehen. Dabei werden wir zunächst untersuchen, wie das Thema Rassismus behandelt wird (3.1). Dann werden wir betrachten, welche Afrikabilder in dem Geschichtsbuch gefestigt oder aufgebrochen werden (3.2). Im letzten Punkt gehen wir dann speziell auf die deutsche Kolonialgeschichte ein (3.3) und kommen anschließend zu einem Fazit (4.).
3. Analyse des Schulbuches „Geschichte und Geschehen“
3.1 Rassismus als Ideologie und Rechtfertigung von Kolonialismus
Während im Europa des 18. Jahrhundert mit der “Aufklärung” Werte wie Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit an Wichtigkeit gewannen, standen diese mit den menschenunwürdigen Methoden der Kolonialpolitik und dem Handel mit versklavten Menschen im Widerspruch (Marmer & Sow 2013: 50,61; 2015: 16). Die Ideologie des Rassismus war ausschlaggebend für die europäischen Verbrechen in den Kolonien. Die Konstruktion einer unterlegenen “Rasse” rechtfertigte die Ausbeutung, Versklavung und Unterdrückung der kolonisierten Menschen (Autor*innenKollektiv 2015: 38). Europäische Wissenschaftler wie Kant oder Hegel untermauerten dabei die rassistische Ideologie mit “wissenschaftlichen” Theorien (Marmer & Sow 2015: 16,17). Auch nachdem die von Deutschland kolonisierten Gebiete nach dem 1. Weltkrieg an andere europäische Mächte gingen, existierte der Kolonialrassismus weiter (Davenas 2014: 7). Das „Selbst- und Fremdbild“ weißer Deutscher wird auch heute von diesem weitgehend beeinflusst (Grieb 2015: 3). Dennoch wird Rassismus in Deutschland von der weißen Mehrheitsgesellschaft kaum als Problem anerkannt. Er wird in erster Linie mit rechtsextremer Gewalt in Verbindung gebracht, während seine institutionalisierte und alltägliche Form von weißen Menschen meist nicht wahrgenommen wird (Marmer & Sow 2015: 14). Gerade deswegen ist es umso wichtiger, den Ursprung dieser Ideologie zu kennen.
Das Kapitel “Warum erobern die Europäer die Welt? – Mission, Zivilisation und Ausbeutung” hat den Anspruch, die Methoden und Rechtfertigungen der Europäer*innen für die Kolonisierung zu erörtern. Während Konzepte wie Darwinismus und Imperialismus am Rande erläutert werden, wird Rassismus weder wörtlich erwähnt, noch wird auf seine Funktionsweisen und Bedeutung für den Kolonialismus eingegangen. Der erste Abschnitt ist mit der Frage “Ist die “weiße Rasse” überlegen?” betitelt (Klett 2011: 49). Zwar steht “Rasse” in Anführungszeichen, was auf die Konstruktion dieser Kategorie hinweisen könnte; dies wird jedoch nicht weiter aufgegriffen. Wir gehen nicht davon aus, dass die Anführungszeichen genügen, um einer tiefgreifenden Reflexion der Lehrkäfte und Schüler*innen eine Grundlage zu geben. Damit bestätigt sich Poenickes Ergebnis, dass Rassismus „in keinem der untersuchten Bücher ernsthaft behandelt wird“ (Poenicke 2008: 34)[3].
Das erste und einzige Mal wird Rassismus in der Textquelle des kenianischen Politikwissenschaftlers Ali A. Mazrui explizit benannt. Dieser lässt außerdem nicht außer Acht, welch tiefgreifende Folgen die Kolonialzeit noch heute auf den afrikanischen Kontinent hat:
“Das Kreuz der Erniedrigung, das Afrika durch die Jahrhunderte getragen hat und noch immer trägt, gründet zu einem erheblichen Teil auf dem Rassismus und der kulturellen Arroganz der Europäer.” (Klett 2011: 53)
In dem einem weiteren Abschnitt “Wirtschaftliche Interessen und Ausbeutung” wird das “Zivilisatorische Sendungsbewusstsein” richtigerweise als “Rechtfertigung für die wirtschaftlichen Interessen von Industriellen, Kaufleuten und Politikern” (Ibid.: 50) im Rahmen des Kolonialismus entlarvt. Doch wird auch hier nicht weiter auf den problematischen Begriff der Zivilisation eingegangen (mehr zu Zivilisation in Punkt 3.2.1). Es ist positiv zu bewerten, dass wirtschaftliche Interessen und Ausbeutung als eigentliche Motivationen hinter der Kolonialpolitik aufgedeckt werden. Allerdings wird dies im selben Abschnitt abgeschwächt, indem aus europäischer Sicht die „Kosten für den Bau von Verkehrsverbindungen, Verwaltung und militärischer Besatzung sowie die Niederschlagung von Aufständen“ u.a. die Kolonien als unrentabel bewertet werden (Ibid.: 50). Die Bewertung des Kolonialismus anhand seiner Rentabilität für die Kolonialmacht ist eine „eurozentrische und menschenverachtende Sichtweise“ (Davenas 2014: 9), bei der die schwerwiegenden Folgen für die einheimische Bevölkerung außer Acht gelassen wird. Außerdem werden so die erheblichen Folgen relativiert, die sich noch heute in global strukturierten Ungleichheiten äußern (Davenas 2014: 17). Am Ende des Abschnittes steht zwar: “Die Folgen dieser Entwicklung belasten noch heute das Verhältnis zwischen der so genannten Ersten und Dritten Welt” (Klett 2011: 50). Der Satz ist jedoch sehr neutral formuliert und thematisiert nicht ausreichend die kolonial geprägten Abhängigkeiten, die bis heute bestehen.
3.2 Afrika-Bilder
Laut Elina Marmer werden bestimmte Afrikabilder „in den Massen- und Bildungsmedien subtil reproduziert“ (Marmer 2013: 27). Mehrere von ihr beschriebenen Afrikarepräsentationen konnten wir auch in den untersuchten Kapiteln wiederfinden. Darunter kommt „Afrika als eine Antithese zu Europa“ vor. Eine weitere dominante Darstellung ist die Simplifizierung des afrikanischen Kontinents im Gegensatz zur komplexen und multiperspektivischen Darstellung westlicher Gesellschaften (Ibid.). Außerdem zeichnen viele Schulbücher das Bild passiver und hilfsbedürftiger Afrikaner*innen, die nicht als handelnde Akteur*innen auftauchen (Davenas 2014: 14-15; Grieb 2015: 8). In Folgendem werden wir diese Thesen anhand von Beispielen aus dem Schulbuch illustrieren.
3.2.1 Afrika als Antithese zu Europa
In der rassistischen Tradition, die bis heute anhält, wird Europa bzw. werden weiße Menschen als überlegen konstruiert (Autor*innenKollektiv 2015: 34). Um sich nicht-weiße und/oder außereuropäische Gesellschaften als unterlegen vorzustellen, werden diese häufig als ‘anders’ und ’rückständig’ dargestellt. Noah Sow erklärt dies folgendermaßen: „Die „Rasse“-Idee ist auf Engste mit dem weißen Bedürfnis verbunden, sich einen „anderen“ zu schaffen – eine Projektionsfläche für alles Böse, Unheimliche, Verbotene oder Begehrte.“ (Sow 2009: 73). Diese Abgrenzung geschieht auch auf einer zeitlichen Ebene. Basierend auf einer evolutionistischen Vorstellung wird das weiße Europa „an die Spitze der menschlichen ‚Entwicklung’“ gestellt und der Rest auf einer niedrigeren Entwicklungsstufe imaginiert (Autor*innenKollektiv 2015: 38).
Ein perfektes Beispiel dieser zweigeteilten Weltsicht ist die englische Postkarte, die laut Unterschrift “Kumasi (Stadt in Ghana) vor dem Krieg und nach dem Krieg…” darstellt (Klett 2011: 49). In Kumasi vor dem Krieg werden halbnackte Schwarze Menschen dargestellt, die zwischen Strohhütten stehen. In Kumasi nach dem Krieg sind Schwarze Menschen zu sehen, die Anzüge, bzw. lange Kleider und Hüte tragen und in Bewegung sind. Es gibt ein Auto und Werbungen für englische Marken (Bovril, Colman’s, Typewriter). Dieser Wandel wird mit “Die Zivilisation hält Einzug” betitelt. Dies wäre eine gute Stelle zu erkennen, dass die Engländer Zivilisation mit einer bestimmten Art von Kleidung und technischem Fortschritt (das Auto, die Schreibmaschine), also ihrem eigenen Lebensstil gleichsetzten. Elina Marmer beschreibt dies passend: „Wohlstand wird zum Symbol für den höheren Entwicklungsstand“ (Marmer 2013: 28). Der Widerspruch zwischen der westlichen Eigenbeschreibung als zivilisiert, und ihrer barbarischen Vorgehensweisen während der Kolonisation wird auch hier nicht thematisiert[4].
Auch in den Quellen, die überwiegend von Politikern der Kolonialzeit stammen, werden Kolonialmächten pauschal Eigenschaften zugeschrieben, die ihrem Gegenteil außerhalb Europas/ den USA abgesprochen werden. So spricht ein US-Amerikanischer Politiker von “unkultivierten Ufern”, die durch die US-Amerikanische Ankunft “schöner und zivilisierter” werden. Ein deutscher Historiker spricht von der Pflicht die “Barbarenländer” zu kolonisieren. Und der damalige französische Ministerpräsident sieht es als ein Recht, “die Völker zu zivilisieren, die mehr oder minder barbarisch geblieben sind.” (Klett 2011: 51)
Am Ende wird die Aufgabe gestellt, anhand der Quellen zu erklären, wie der Erwerb von Kolonien gerechtfertigt wurde. Es wird jedoch auf die erfundene Zweiteilung in zivilisiert und unzivilisiert (oder auch entwickelt/unterentwickelt, modern/rückständig) nicht explizit eingegangen. So bleibt sie im Raum stehen, da all diese Begriffe unkommentiert verwendet werden. Dadurch werden die damit verknüpften Bilder aufrechterhalten und eine bestimmte Vorstellung von Afrika als Gegensatz zu dem weißen Westen unreflektiert reproduziert.
3.2.2 Simplifizierung des afrikanischen Kontinents
Abgesehen von einigen in Anführungszeichen gesetzten Begriffen, wie zum Beispiel “weiße Rasse” oder “unterentwickelte Völker” (Ibid.: 49), verwendet Klett kaum problematische Termini. Ein Wort scheint sich jedoch bis heute nicht aus den Köpfen der Menschen zu lösen. Wenn von afrikanischen Gesellschaften die Rede ist, so wird meist der Begriff „Stamm“ verwendet. Erstens wird dieser Begriff im Zusammenhang mit Europa nur in Bezug auf vergangene Zeiten verwendet (z.B. germanische Stämme; nicht jedoch der Stamm der Bayern), was suggeriert, afrikanische Bevölkerungsgruppen befänden sich auf einer tieferen Entwicklungsstufe (daher auch die häufige Assoziation mit ‚primitiv’). Zweitens homogenisiert dieser Begriff Gesellschaften verschiedener Größen, Organisationsformen und Kulturen (Poenicke 2008: 20-23)[5]. Ein damit verknüpfter Begriff, der ähnlich homogenisierend und hierarchisierend wirkt, ist ‘Häuptling’. So würde dieser Begriff niemals für Machthaber*innen im Westen benutzt werden und wird laut Arndt mit einer Person assoziiert, die “nicht ernst zu nehmen, weniger bedeutsam und keineswegs gleichberechtigt oder ebenbürtig mit Machthaber_innen in Europa ist.” (Arndt & Ofuatey-Alazard 2011: 687-688).
Unter den vier ausgesuchten Textquellen aus dem Kapitel über das Deutsche Reich als Kolonialmacht sind drei deutsche Quellen und eine Erzählung eines Togolesen. Während bei den deutschen Quellen die Namen Bebel, von Bülow und Dernburg genannt werden, ist bei der vierten Quelle nur die Rede von einem „Häuptling aus Togo“ (Klett 2011: 55-56). Nicht nur wird überwiegend weißes Wissen dargestellt, der einzige Schwarze Autor, der zu Wort kommt, wird noch nicht einmal namentlich genannt, sondern nur mit einem exotisierenden Titel bezeichnet.
Die Textfrage zu dem togolesischen Textauszug lautet: „Wie beurteilt die afrikanische Bevölkerung die Kolonisierung?“ (Ibid. Aufgabe 3). Scheinbar wird davon ausgegangen, dass eine einzige Aussage einer einzelnen Person, die auf dem afrikanischen Kontinent lebte, ausreichend sei, um eine Beurteilung aus Sicht der gesamten afrikanischen Bevölkerung zu formulieren. Wieder wird hier die innere Differenz Afrikas übersehen und gar keine Möglichkeit gelassen, dass es innerhalb des von über einer Milliarde Menschen bewohnten Kontinents unterschiedliche Sichtweisen und Erfahrungen geben könnte. Während drei deutsche Quellen verschiedene Meinungen aus der damaligen Zeit widerspiegeln, wird der einen togolesischen Quelle ein Allgemeingültigkeitsanspruch für ganz Afrika zugesprochen. Hier spiegelt sich wieder, dass für westliche Kontexte stets verschiedene Stimmen anerkannt und gehört werden, während anderen Regionen diese Vielfalt von vornherein abgesprochen wird (vgl. Adichie 2009).
In einer ähnlichen Aufgabe sollen sich die Schüler*innen im vorangegangenen Kapitel in der Rolle eines Europäers und eines Einheimischen “über die Gründe und Folgen des Erwerbs von Kolonien” unterhalten (Klett 2011: 49). In dieser Aufgabe wird Afrika abermals und auch Europa nicht differenziert. Weder wird eine spezifische Kolonie genannt, noch darauf eingegangen, dass die Einheimischen eine heterogene Gruppe darstellten, die die Kolonialzeit auf verschiedene Weise erlebten.
Diese Reduzierung eines ganzen Kontinents findet auch an anderer Stelle statt: Anhand zweier Fotos sollen Schüler*innen die Veränderungen des Alltags durch die Kolonisation herausarbeiten (Klett 2011: 56, Aufgabe 5). Das eine stellt den „Häuptling von Balibe mit seinen 20 Frauen“ dar. Das andere eine „Hochzeitsgesellschaft in Duala, Kamerun“. Auf erstem Foto sind 20 Frauen mit nackten Oberkörpern zu sehen, die vermutlich für die Kamera in einer Reihe stehen. Nicht nur ist das Wort Häuptling, genauso wie Stamm, negativ konnotiert, zusätzlich ist diese Darstellung der Frauen unangemessen. So würden weiße Körper auf solche Art niemals in einem Schulbuch zur Schau gestellt werden (Marmer & Sow 2013: 64). Auch Poenicke kritisiert diesen Vergleich. Es würden zwei Regionen (heutiger Kongo und Kamerun) verglichen, die selber eine Vielzahl an Kulturen beherbergen (Poenicke 2008: 26). Wie auch die oben beschriebene Arbeitsanweisung, aus einer einzigen Aussage die Meinung „der Einheimischen“ herauszulesen, homogenisiert dieser Vergleich die verschiedenen Auswirkungen kolonialer Politiken auf einen ganzen Kontinent.
3.2.3 Handelnde Afrikaner*innen
Davenas sowie Grieb beschreiben die weitverbreitete Vorstellung, Menschen aus Afrika seien, damals wie heute, passiv und hilfsbedürftig (Davenas 2014: 14-15; Grieb 2015: 8). In ihrem Vortrag „The Danger of a Single Story“, erzählt die Nigerianerin Chimamanda Ngozi Adichie von ihrer ersten Mitbewohnerin in den USA, die überrascht war über Adichies gutes Englisch und dass sie einen Herd benutzen konnte:
„She had felt sorry for me even before she saw me. […] My roommate had a single story of Africa. A single story of catastrophe. In this single story there was no possibility of Africans being similar to her in any way. No possibility of feelings more complex than pity. No possibility of a connection as human equals.“ (Adichie 2009: min. 4:50 – 5:21)
Dieses Zitat zeigt eine der vielen Konsequenzen, die gewisse Afrikabilder haben können. Bezüglich dieses Punktes ist es ausschlaggebend, ob Afrikaner*innen in den Geschichtsbüchern als handelnde Personen (Poenicke 2008: 14,16) vorkommen und ob sie namentlich benannt werden (Ibid.: 12). Denn durch eine eurozentrische Erzählweise erscheinen Afrikaner*innen häufig als „homogene Masse passiver Opfer, die nicht für sich selbst sprechen können“ (Grieb 2015: 42). Wenn auch Opfer kolonialer Gewalt, gab es vielfältigen Widerstand (Poenicke 2008: 16). Doch werden keine Widerstandskämper*innen benannt, noch portraitiert (Grieb 2015: 49). Einzig ein Bild des „Angriff[s] der Dahomeer (Einwohner Benins) – abgeschlagen von einem französischen Kanonenboot“ (Klett 2011: 53) lässt einen Widerstand erahnen. Es werden jedoch keine Motive und die Hintergründe des „Angriffs“ thematisiert.
Bezüglich der Bilder bemerkt Grieb, dass der Inhalt häufig sehr verallgemeinernd in der Bildunterschrift erklärt wird. Außerdem beschäftigen sich die Arbeitsanweisungen nur unzureichend mit den Inhalten und dem Entstehungskontext (Grieb 2015: 42). Poenicke schließt daraus, dass die Bilder wohl eher den „Zweck eines Blickfangs erfüllen“ sollen, als den Schüler*innen weitere Erkenntnisse zu bringen (Poenicke 2008: 26). Ähnlich verhält es sich mit der Abbildung dreier namenloser Kongoles*innen, deren Arme von der belgischen Kolonialregierung amputiert wurden „weil sie zu wenig Kautschuk abgeliefert hatten.“ (Bildunterschrift in Klett: 51). Zwar hilft dieses Bild, sich die Brutalität der Kolonisatoren vor Augen zu führen. Jedoch wird der kongolesische Kontext konkret nirgendwo anders erwähnt. Außerdem wird das Bild namenloser Opfer an keiner Stelle mit würdevollen Fotos handelnder Afrikaner*innen ausgeglichen (Poenicke 2008: 25). Marmer weist zusätzlich auf die Gefahr hin, solche Bilder würden bei weißen Schüler*innen eine Mischung aus Mitleid und Überlegenheitsgefühl erzeugen (Marmer 2013: 28). Wie sie in ihrer Studie mit Papa Sow et al. herausfand, wurden die Bilder häufig auf Schwarze Mitschüler*innen übertragen (Marmer et al. 2011: 26). Grieb beendet ihre Bildanalyse mit der Feststellung, die meisten Bilder würden „Schwarze und People of Colour nur als Unterlegene und nur auf europäischen Bildquellen“ darstellen (Grieb 2015: 58).
3.3 Einzelheiten deutscher Kolonialgeschichte
In dem Schulbuch finden sich innerhalb des Kapitels zu Imperialismus und erster Weltkrieg nur drei Seiten über deutschen Kolonialismus (Klett 2011: 54-56), wobei nur eine Seite hiervon den tatsächlichen Text darstellt und die anderen beiden Seiten Ausschnitte von Quellen (Texte und Bilder) liefern, die von den Schüler*innen analysiert werden sollen.
Der erste Abschnitt in dem Kapitel ist mit der Aussage „Deutschland ist zu kurz gekommen“ (Ibid.: 54) betitelt. Dies soll zwar ein Zitat darstellen, doch als Überschrift wird der Aussage doch ein gewisser Wahrheitsgehalt zugesprochen. Die darin enthaltene Annahme, dass europäische Länder ein Anrecht auf Kolonien hätten und Deutschland dabei „leer ausgegangen“ sei, wird einfach übernommen und nicht problematisiert. Somit wird gleich als Einstieg in den Themenbereich deutscher Kolonialgeschichte impliziert, dass europäische Kolonialmächte ein Recht auf außereuropäische Gebiete hätten.
In dem ersten Abschnitt über die deutsche Kolonialzeit ist die Rede von „Gebiete[n] im heutigen Südwestafrika“ (Ibid.), doch in dem gesamten Text wird nicht erwähnt, welche Gebiete und heutigen Länder von Deutschland kolonisiert wurden[6]. Damit wird einerseits das Bild von ‚Afrika’ als ein einheitlicher Kontinent reproduziert, dessen einzelne Länder keine Rolle spielen und daher auch nicht genannt werden müssen. Außerdem unterstützt es die Sichtweise, dass Deutschland keine „nennenswerten“ Kolonien hatte und macht das gewaltvolle Handeln Deutschlands unsichtbar. Aus persönlicher Erfahrung können wir feststellen, dass die meisten Menschen in Deutschland nicht wissen, an welchen Orten Deutschland als Kolonialmacht präsent war. Mit der Nicht-Nennung deutscher Kolonien wird das Ausmaß des deutschen Kolonialismus verschwiegen und implizit als unwichtig abgetan.
Die Afrika-Konferenz, die 1884/85 in Berlin stattfand und bei der es um die koloniale Aufteilung Afrikas unter den europäischen Ländern ging, wird ebenfalls nicht in dem Buch erwähnt (die Jahreszahl wird als Anfang deutscher Expansion benannt). Damit wird ein zentrales Ereignis europäischer Kolonialgeschichte, dessen Grenzziehungen bis heute Auswirkungen auf den afrikanischen Kontinent haben, außer Acht gelassen. Außerdem versäumt Klett es, im Berliner Schulbuch einen lokalen Bezug zu der Konferenz herzustellen und den wichtigen Anteil der deutschen Regierung an diesem Ereignis herauszustellen (vgl. Kopp & Krohn).
In dem Abschnitt “Bismarck und die Kolonien” wird der Beginn der deutschen Kolonialzeit folgendermaßen erläutert:
“Die von Kaufleuten wie Adolf Lüderitz und Adolf Woermann, Forschungsreisenden wie Gustav Nachtigal und Abenteurern wie Carl Peters erworbenen Gebiete an der West- und Ostküste Afrikas erhielten nun den Schutz des Reiches.” (Klett 2011: 54)
Die hier genannten Personen werden nicht weiter erläutert oder kontextualisiert, obwohl sie eine zentrale Rolle in der deutschen Kolonialzeit gespielt haben. Adolf Lüderitz war der erste Begründer einer deutschen Kolonie im heutigen Namibia, die er jedoch nur durch einen Betrug an sich nahm (Kopp & Krohn), was in dem Buch nicht erwähnt wird. Der Verein ‚Berlin Postkolonial’ arbeitet seit Jahren zu kolonialen Kontinuitäten im Berliner Stadtbild und kritisiert kolonialrassistisch geprägte Straßennamen im Afrikanischen Viertel, u.a. die Lüderitzstr, die Petersallee und den Nachtigalplatz, die in direktem Bezug zu den im Buch genannten Personen stehen. Die kamerunische Germanistin Dr. Marie Biloa Onana sagt zum Beispiel, dass Gustav Nachtigal „in besonderem Maße verantwortlich für das Unrecht [war], das den kolonisierten Völkern zugefügt wurde“ (Onana nach Ibid.). Die geäußerte Kritik an den genannten Personen wird bei Klett nicht erwähnt und stattdessen verharmlosende Begriffe wie „Abenteurer“ oder „Forschungsreisender“ verwendet.
In diesem Abschnitt ist außerdem von „gekauften Gebiete[n]“ die Rede, die „unter den Schutz des Deutschen Reiches“ gestellt wurden (Klett 2011: 54). Das Wort ‚gekauft’ impliziert, dass es sich hierbei um ein ausgeglichenes Tauschverhältnis handelte, was jedoch die Realität nicht angemessen widerspiegelt. Tatsächlich waren in der Regel fehlende Informationen, unklare Angaben und Betrug Grundlage der Aneignung afrikanischer Gebiete von deutscher Seite (Kopp & Krohn). Die Kolonialgeschichte wird hier jedoch mit Alltagswörtern aus der Wirtschaft, wie “kaufen”, “erwerben” und “Verträgen”, erzählt, was ihre einzigartige Brutalität als normal erscheinen lässt. Die unhinterfragte Verwendung des „Schutz“-Konzeptes bekräftigt außerdem die Idee, dass die Deutschen den kolonisierten Gebieten durch ihre Ankunft einen Gefallen getan hätte und sie durch ihre Anwesenheit tatsächlich „beschützt“ hätten. Der “Schutz” wird den Kolonisierten von den eigentlichen Tätern gewährt, wodurch ihre kolonialen Verbrechen verschleiert werden.
In der Einleitung zu Paolo Freire’s “Pedagogy of the Oppressed” erläutert Donaldo Macedo, wie bestimmte Begriffe die Realität verzerren (Macedo 2000: 21). Als Beispiel gibt er den Terminus “Ethnische Säuberung” (ethnic cleansing), der häufig als Euphemismus für Völkermord (genocide) verwendet wird. Dieser Begriff enthält Wörter mit positiven Konnotationen, wodurch es schwieriger wird, sich die Brutalität dahinter vorzustellen[7]. Ein weiteres Beispiel wird im rassismuskritischen Leitfaden angeführt: So macht es einen Unterschied, ob von anti-kolonialem Widerstand oder einem kriegerischen Aufstand geschrieben wird. Durch die erste Formulierung scheint der Kampf berechtigt, während die Motive bei der zweiten unklar bleiben (Autor*innenKollektiv 2015: 44).
In einem kleinen Abschnitt wird die „ungerechte und unwillkürliche Behandlung der Bevölkerung durch deutsche Beamte, Soldaten und Siedler“ und die „große Brutalität“, mit der Aufstände niedergeschlagen wurden, erwähnt (Klett 2011: 54). Dies ist die einzige Erwähnung von anti-kolonialem Widerstand in den Kolonien, doch von einer genaueren Ausführung wird abgesehen. Damit werden die Einheimischen nicht als eigenständige Akteur*innen, die dazu fähig sind, Entscheidungen zu treffen und Widerstand zu leisten, dargestellt, sondern erneut in eine passive Rolle gedrängt. Eine ausführlichere Thematisierung von anti-kolonialem Widerstand könnte zu einem Abrücken von dieser Opferrolle führen (Marmer & Sow 2013: 62).
Weiterhin findet sich nur ein einziger Satz zu den Menschen, die unter deutscher Kolonialherrschaft umgebracht wurden:
„In Südwestafrika lebten nach einem Aufstand in den Jahren 1904 bis 1907 von den ursprünglich ca. 80 000 Hereros nur noch 15 130; in Ostafrika verloren 75 000 Menschen ihr Leben, als die Kolonialherren eine Erhebung in den Jahren 1906/07 niederschlugen.“ (Klett 2011: 54)
Die tatsächlichen Ausmaße der deutschen Brutalität werden hier nicht sichtbar und in nur einem Satz als nebensächlich dargestellt. Auch die genannten Zahlen sind irreführend, denn insgesamt wird von mehreren hunderttausend Opfern unter deutscher Kolonialmacht ausgegangen[8]. Außerdem werden sehr umschreibende Begriffe benutzt und die tatsächlichen Worte ‚umbringen’ oder ‚töten’ nicht verwendet, wodurch die aktive Rolle und Brutalität Deutschlands verschleiert wird.
Dass es sich bei den Morden an den Herero um den ersten Genozid des 20. Jahrhunderts handelte und dieser bis heute von der deutschen Regierung nicht als solcher anerkannt wurde (vgl. genocide-namibia.net), wird in dem Text nicht erwähnt[9]. Dabei erachtet es Poenicke als äußerst wichtig, dass die Schulbücher mit der Definition des Völkermordes arbeiten und den “Vernichtungswille[n] der deutschen Kolonialherren” (Poenicke 2008: 31) nicht mit der Niederschlagung eines Aufstandes verharmlosen. Ein Kapitel, dass der Komplexität des Völkermords gerecht würde, sollte u.a. Folgendes thematisieren: die Motive des Aufstandes der Herero und Nama, Widerstandskämpfer*innen wie Samuel Maherero, Kolonialverbrecher*innen wie Lothar von Trotha, die ersten deutschen Konzentrationslager in Deutsch-Südwestafrika und die bis heute nicht erfüllten Reparationszahlungen (Ibid.: 31-33).
4. Fazit
Mit dieser Analyse konnten wir bestätigen, dass Afrika in vielen Bereichen auf kolonial geprägte Weise dargestellt wird (Poenicke 2008: 5). Auch im Bereich der Massenmedien fällt auf, dass der afrikanische Kontinent oft vereinfacht und mit Problemen und Mängeln dargestellt wird (Ibid.: 11). Solch dominanten Vorstellungen könnten durch eine differenzierte Auseinandersetzung im Unterricht aufgebrochen werden. Oft werden sie jedoch eher bestätigt und tragen dazu bei, die Vorurteile von Schüler*innen zu verfestigen. Um dem entgegenzuwirken, ist es wichtig, „historische und gegenwärtige Schwarze Perspektiven in ihrer Komplexität“ mit einzubeziehen (Autor*innenKollektiv 2015: 30). Bei Klett “Geschichte und Geschehen” wurden europäische Motive jedoch multiperspektivisch, afrikanische wiederum entweder gar nicht oder durch wenige Quellen dargelegt. Auch der geringe Umfang der Kapitel zu (deutschem) Kolonialismus ist zu bemängeln, da der Völkermord und Details zu deutschen Kolonien kaum Erwähnung finden.
Geschichtsschulbücher sind nur eines von vielen Medien, durch die rassistisches Wissen weitervermittelt wird. Josephine Apakru vom Institut für diskriminierungsfreie Bildung erklärt in einem Interview, wie wichtig auch die “individuelle Handlungsebene” ist (Apakru 2015). Auf welche Weise in der Praxis mit den Unterrichtsmaterialien von Seiten der Lehrkräfte umgegangen wird und welche Zusatzmaterialien hinzugezogen werden, kann durch Untersuchungen der Schulbücher natürlich nicht in Erfahrung gebracht werden. Apakru empfiehlt Lehrer*innen, sich mit Paolo Freire’s “Pedagogy of the Oppressed” auseinanderzusetzen (Freire 2005 (1970)). Nach Freires Theorie würden Schwarze Schüler*innen mit ihrer Erfahrung mit Rassismus als Lehrende für weiße Schüler*innen und Lehrkräfte wahrgenommen werden können (Apakru 2015: min. 1:12, 3:22). Zusätzlich liefert der rassismuskritische Leitfaden eine Vielzahl an Vorschlägen und Reflexionsmöglichkeiten. Im Internet konnten wir weitere Materialien finden, wie beispielsweise die Zusammenstellung von “Methods of Antiracist Education” des solar e.V. (solar 2013) oder die Webseite “zwischentöne – Materialien für Vielfalt im Klassenzimmer” (Georg Eckert Institut). Weiterhin stießen wir auf in Berlin stattfindende Fortbildungen wie “Hier und jetzt! Fortbildungen für Pädagog*innen – Kolonialismus und Kolonialrassismus im Unterricht” (Antirassistisch-Interkulturelles Informationszentrum Berlin 2016) und Veranstaltungen der Initiative gegen institutionelle Diskriminierung in Berlin-Kreuzberg und Neukölln (Berliner Initiative gegen institutionelle Diskriminierung). Bevor sich also die Inhalte der Schulbücher ändern, ist es ein guter Ansatzpunkt, auch Lehrer*innen zu sensibilisieren. Poenicke sieht ein weiteres Problem im Geschichtsstudium der Schulbuchautor*innen, dass von institutionalisiertem Rassismus ebenfalls betroffen ist. So sollten Verlage wie Klett diese fehlenden Kompetenzen ausgleichen, indem sie zusätzlich Menschen mit genügend “Vorwissen zu Afrikathemen” heranziehen (Poenicke 2008: 40).
Wir hoffen, dass Analysen wie diese zum Anlass genommen werden, Unterrichtsmaterialien kritischer zu betrachten und diese auch zu verändern. Eine intensivere Behandlung von deutschem Kolonialismus in der Schule könnte helfen, Schüler*innen für Themen wie globale Ungleichheiten und Rassismus zu sensibilisieren. Es ist jedoch wichtig zu erkennen, dass die Darstellung von deutschem Kolonialismus im Geschichtsschulbuch nur den gesamtgesellschaftlichen Umgang mit diesem Thema widerspiegelt und dass eine Veränderung an mehreren Punkten ansetzen muss.
5. Literaturverzeichnis
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Antirassistisch-Interkulturelles Informationszentrum Berlin e.V. (2016). Hier und jetzt! Kolonialismus und Kolonialrassismus im Schulunterricht. http://www.aric.de/projekte/hier_und_jetzt/.
Apakru, Josephine (2015). Rassismus nach Lehrplan. Bundeszentrale für politische Bildung. https://www.youtube.com/watch?v=4O2x5haN0i4. [18.09.2016].
Arndt, Susan, & Ofuatey-Alazard, Nadja (2011). Wie Rassismus aus Wörtern Spricht: (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv Deutsche Sprache: ein Kritisches Nachschlagewerk. Münster: Unrast-Verlag.
Autor*innenKollektiv (2015). Rassismuskritischer Leitfaden. IMage of AFRica in EDUcation. Hamburg-Berlin.
Belli, Gioconda (1991). Bewohnte Frau (La Mujer Habitada). München: Deutscher Taschenbuch Verlag.
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Davenas, Marion (2014). Kolonialrassismus im Schulbuch? Norrhein-Westfalens Geschichtsbücher auf dem Prüfstand: Berlin Postkolonial e.V.
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Marmer, Elina, & Sow, Papa (2015). Rassismus, Kolonialität und Bildung. In: Marmer, E. & Sow, P. (Hg.), Wie Rassismus aus Schulbüchern Spricht : Kritische Auseinandersetzung mit »Afrika«-Bildern und Schwarz-Weiß-Konstruktionen in der Schule – Ursachen, Auswirkungen und Handlungsansätze für die Pädagogische Praxis (pp. 14-25). Weinheim-Basel: Beltz Juventa.
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[1] Die Bezeichnungen ‚Schwarz’ und ‚weiß’ sind politische (Selbst-)Bezeichnungen, die sich nicht auf essentialistische Zuschreibungen wie die Hautfarbe, sondern auf die gesellschaftspolitische Position eines Menschen beziehen und auf Rassismuserfahrungen und Privilegien hinweisen sollen. (weiteres dazu: Sow 2011)
[2] vgl. dazu u.A. Kilomba 2010, Sow 2009
[3] Davenas zeigt in ihrer vergleichenden Analyse, dass „(k)ulturelle und ideologische Dispositionen, wie das Überlegenheitsgefühl der Europäer_innen gegenüber außereuropäischen Völkern oder ihr Sendungsbewusstsein, (…) entweder (in fünf der untersuchten Schulbücher) als sekundäre Faktoren dargestellt oder (in Horizonte) gar nicht thematisiert werden. Außerdem wird nur in einem Buch – und zwar dem ältesten – der koloniale Rassismus konkret angesprochen und ausführlich problematisiert, während das Wort „Rassismus“ in keinem der anderen hier analysierten Schulbücher fällt.“ (Davenas 2014: 10)
[4] Passend beschreibt die nicaraguanische Autorin Gioconda Belli das Vorgehen der Spanier aus der Sicht einer Frau der Nahua zur Zeit der spanischen Kolonisation in Lateinamerika: „Die Spanier meinten, sie müssten uns zivilisieren, uns aus der Barbarei erlösen. Doch mit Barbarei unterwarfen sie uns, entvölkerten uns.“ (Belli 1991: 93)
[5] „Der Begriff ‚Stamm’ entsprang der irrigen evolutionistischen Vorstellung einer gesetzmäßigen Entwicklung menschlicher Organisationsformen von Familien zu ‚Sippen’ oder Klans, von Klans zu ‚Stämmen’ und ‚Stammesföderationen’ und von diesen schließlich zum Staat, wobei eine wertende Entgegensetzung (…) impliziert war.“ (Ivanov in Poenicke 2008: 20)
[6] Uns ist bewusst, dass auch außerhalb Afrikas deutsche Expansion stattfand. Da die Einarbeitung in diesen Themenbereich jedoch den zeitlichen Umfang unserer Arbeit gesprengt hätte, haben wir uns entschieden, es nicht in die Analyse mit einzubeziehen. Zu bemerken bleibt jedoch, dass auch das Geschichtsbuch nicht darauf verweist.
[7] “If we were to deconstruct the term “ethnic cleansing” we would see that it prevents us from becoming horrified by Serbian brutality and horrendous crimes against Bosnian Muslims. The mass killings of women, children, and the elderly and the rape of women and girls as young as five years old take on the positive attribute of “cleansing”, which leads us to conjure a reality of “purification” of the ethnic “filth” ascribed to Bosnian Muslims, in particular, and to Muslims the world over, in general.”(Macedo 2000: 21)
[8] „Mit bis zu 300.000 Opfern in Deutsch-Ostafrika und bis zu 100.000 Toten in Südwestafrika zeugen [die Kriege] von einer Brutalität und Rücksichtslosigkeit der deutschen Kriegsführung, die mit menschenverachtend wohl noch unzureichend umschrieben ist.“ (Zimmerer 2014)
[9] Auch in anderen Geschichtsbüchern wird der Völkermord nicht als solcher benannt und unzureichend thematisiert (Grieb 2015: 29)
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